Ein allzu braves Maedchen by Andrea Sawatzki

Ein allzu braves Maedchen by Andrea Sawatzki

Autor:Andrea Sawatzki [Sawatzki, Andrea]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 3492961576
Google: uarANAEACAAJ
Goodreads: 17570098
Herausgeber: Piper
veröffentlicht: 2013-01-02T23:00:00+00:00


DONNERSTAG

33»Wie gelingt es Ihnen heute, mit älteren Menschen umzugehen. Werden Sie ungeduldig, wenn Sie auf alte Menschen treffen? Nach allem, was Sie erlebt haben?«

Manuela Scriba überlegte. Nach wie vor weigerte sie sich, Schuhe und Strümpfe anzuziehen.

»Neulich habe ich abends eine alte Frau auf der Straße gesehen, die offensichtlich auch nicht mehr bei klarem Verstand war. Sie hatte in der Eiseskälte über dem Nachthemd einen schief zugeknöpften Mantel an und trug noch Pantoffeln. Das Haar war ungekämmt und hing ihr ins Gesicht. Sie stand vor dem Bahnhof und drehte sich immer wieder in alle Himmelsrichtungen, wobei sie den Kopf schüttelte und vor sich hin murmelte. Ich hätte eigentlich hingehen müssen, um ihr meine Hilfe anzubieten, denn es war ganz klar, dass sie nie mehr nach Hause zurückfinden würde. Aber es ging nicht. Ich stand da und starrte sie an, und alle Bilder meines Vaters kamen in mir hoch, wie in einem Kino. Das Bild der Frau wurde praktisch von den Bildern meines Vaters überlagert.

Ich habe ihr dann auch nicht geholfen, sondern bin an ihr vorbeigegangen und habe sie nett angelächelt. Freundlich sollte man solchen Menschen gegenüber schon sein, die haben ein unheimliches Gespür und sind sehr leicht zu verletzen. Aber helfen konnte ich ihr nicht.

Meinen Vater hab ich mal an einem Nachmittag aus Versehen nicht eingesperrt. Das fiel mir aber erst auf, als ich mich darüber zu wundern begann, dass er schon seit geraumer Zeit nicht mehr rufend durch die Wohnung gegeistert war. Mein Vater hatte die Gelegenheit genutzt und war abgehauen. War aber nicht weit gekommen, weil das Gartentor abgeschlossen war, und wie man über so was drübersteigt, hatte er wohl verlernt. Jedenfalls komm ich raus, und er steht am Törchen und hat schon drei Leute vor sich versammelt. Die drei guckten völlig überfordert, weil sie aus seinen Erzählungen nicht schlau wurden. Und als ich näher kam, fragte mich einer von ihnen: ›Kannst du dem armen alten Mann hier helfen? Er weiß nicht, wo er wohnt, und sucht seine Frau.‹

Die Gesichter zerflossen beinahe vor Mitgefühl für meinen Vater, und ich hätte kotzen können, weil mir das alles so peinlich war und ich ihn dafür hasste, dass er mich in so eine Situation brachte. Und weil er mein Vater war, aber das brauchte niemand zu wissen, das hätte ich sowieso nie zugegeben. Ich weiß nicht, warum mich das so wütend machte. Ich habe die Leute ignoriert, meinen Vater am Ärmel gepackt und weggezogen. Ich habe gesagt: ›Der wohnt hier, und seine Frau ist tot.‹ Dann hab ich ihn ins Haus geführt. Insgeheim hoffte ich, dass es am Nachmittag klingeln würde und so eine Art Jugendamt für Alte bei uns aufkreuzen und ihn mitnehmen würde. Aber es kam niemand. Meiner Mutter hab ich davon aber nichts erzählt. Sie sollte sich vor der Arbeit nicht aufregen.«



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